lingua latina
Latein
Im Fach Latein wird ein abstrakteres und übertragbares Verständnis, wie Sprache grundsätzlich funktioniert, erarbeitet; dies fördert die allgemein-sprachliche, besonders auch die muttersprachliche Kompetenz.
Die Schüler beschäftigen sich intensiv mit Themen, die die Geschichte und die Kultur Europas geprägt haben.
Latein erzieht zu systematischem und methodischem Arbeiten, zu Gründlichkeit und logischem Denken und erfüllt damit die Forderungen einer Allgemeinbildung in besonderem Maße.
Der Einsatz moderner Arbeitsmaterialien und abwechslungsreicher Unterrichtsmethoden motiviert die SchülerInnen, ohne die systematische Arbeit zu vernachlässigen.
Exkursionen und Studienfahrten sollen die Motivation stärken, die gewonnenen Erkenntnisse verstärkt in den Unterricht einfließen.
Multimediale Materialien und Techniken sollen in zunehmendem Maße in den Unterrricht einbezogen werden.
Warum Latein? - Anmerkungen zur Modernität eines Traditionsfaches
Unter diesem Titel hat Prof. Dr. Karl-Wilhelm Weeber in der Zeitschrift ANTIKE WELT (Jahrg. 31, 2000, Heft 1) und auch im internet folgenden Aufsatz veröffenlicht, (http://www.altphilologenverband.de/renovatio.html), der den Wert des Faches Latein sehr schön deutlich macht):
Latein an der Schwelle zum 3. Jahrtausend? Energien in das Erlernen einer «toten» Sprache investieren? Und das, wo doch kein Weg an der Erkenntnis vorbeigeht, daß Englisch das Lateinische als lingua franca nicht nur der Wissenschaft abgelöst hat?! Latinum in latrinam! Die Kampfansage gestreßter Studenten an - aufgrund schulischer Latein- «Verweigerung» notwendig gewordene - universitäre Crash-Kurse, die vor Jahren per Graffiti-Drohung vornehmlich die Toilettenwände altehrwürdiger Hochschulen erschüttern sollte (man beachte freilich: auf Latein!), sind verhallt; neuerdings sind es seriös, nicht selten im feinen Zwirn von Wirtschaftsmanagern auftretende Bedenkenträger, die, die Stirn in tiefe Falten gelegt, fragen, ob wir im Zeichen der Globalisierung diesen alten Bildungszopf nicht endlich abschneiden sollten. Verschlafen Deutschlands Gymnasien die vielbeschworene Zukunfts-fähigkeit, indem sie weiter auf Latein setzen, den Blick scheinbar starr in die genau entgegengesetzte Zeitdimension gerichtet? Latein - das ist doch Bildungsfriedhof. Wo paßte die satirische lateinische Grabinschrift besser als fürs Lateinische selbst: iacet, tacet, placet - «liegt da, schweigt und gefällt»? Wann endlich wird dieser Epitaph der toten «Mutter Latein» aufgestellt?
Das Sterbeglöckchen, das da bisweilen in einer bemerkenswerten Koalition von turbokapitalistischen Markt- «Realisten» mit «progressiv»-linken «Bildungs»-Politikern (denn Latein ist ja alt, und alt ist reaktionär) geläutet wird, ist bislang ebenfalls verhallt, ohne daß die Totgesagte sich nachhaltig davon hätte beeindrucken lassen. Dies auch, aber nicht nur, weil schon die polemische Etikettierung «tot» eine vergleichsweise unreflektierte Zustandsbeschreibung darstellt. Gewiß, dem Lateinischen sind die native speakers ausgegangen, und deshalb entwickelt es sich im Unterschied zu «lebenden» Sprachen nicht weiter. Wer das mit «Nutzlosigkeit» gleichsetzt, verrät ein sehr einseitiges Sprach-Verständnis. Für ihn zählt Sprache nur als unmitttelbares, mündliches Kommuni-kationsmedium - und da gibt es, die glühenden Anhänger einer Latinitas viva hin (obwohl, wenn etwa der Münchener Latinist Wilfried Stroh lateinisch vorträgt, das eine hinreißende Vorstellung ist!), die in lateinischer Sprache verlesenen Nachrichten des finnischen Rundfunks (nachzulesen unter: http://www.yle.fi/fbc/latini/trans.html) her, in der Tat wenige Gelegenheiten, sich in Ciceros Idiom zu verständigen.
Die Funktion einer Sprache beschränkt sich aber bekanntlich nicht nur auf Performanz («aktive Realisierung»), und der Nutzen einer Sache definiert sich über den Gebrauch, den wir von ihr machen. Das ist beim Buch nicht anders als beim Kunstwerk - beides ist an sich «tote» Materie. Selbst Auto-Enthusiasten müssen einräumen, daß der Gegenstand ihrer Begeisterung an sich ebenfalls «tote» Materie ist, und niemand käme auf die Idee, einen «Golf» des Jahres 1999 deshalb für «tot» im Sinne von unnötig, funktionslos zu erklären, weil er sich nicht «weiter entwickelt», sondern durch ein Nachfolge-Modell «ersetzt» worden ist. Soviel zum Begriff «tot». Etwas nachdenklichere Zeitgenossen sollten sich von diesem bewußt emotionalisierenden Totschlag- «Argument» nicht beeindrucken lassen.
Die Tatsache, daß es sich beim Lateinischen um ein abgeschlossenes sprachliches System handelt, kann sogar als Vorteil genutzt werden - und wird traditionell als Vorteil gesehen. Die Abgeschlossenheit ermöglicht es nämlich in besonderer Weise, die Sprache selbst als analytisches Studienobjekt in den Blick zu nehmen. Wo es auf aktive Sprachbeherrschung und Hörverstehen nicht ankommt, können die insoweit nicht benötigten Lernenergien anderweitig genutzt werden: Sie werden in die Analyse der sprachlichen Strukturen investiert. Grammatik habe man erst richtig im Lateinunterricht gelernt, hört man immer wieder - und zwar auch von ehemals keineswegs überragenden Lateinschülern. Kein Wunder, erlaubt es die Unterrichtssprache Deutsch doch in ganz anderer Weise, sich über das zu unterhalten, was sich sozusagen hinter den Kulissen des sprachlichen Systems abspielt, einen Einblick zu gewinnen, wie Sprache funktioniert, und dieses Funktionieren beschreiben zu können. Die dazu notwendige metasprachliche Begrifflichkeit - vom «Konzessivsatz» über das «Partizip» bis zu Kasusfunktionen (die «berüchtigte» Bestimmung von Ablativen ist kein Ratespiel oder Hobby des Lateinlehrers, sondern eine logisch-abstrakte Klassifizierungsanforderung) - wird im Lateinunterricht viel intensiver eingeübt als in den modernen Fremdsprachen.
Hilfreich ist dieses begriffliche Instrumentarium freilich für das Erlernen jeder Sprache. Hier erbringt die Basissprache Latein einen Service für jeden späteren Spracherwerb - einer von mehreren guten Gründen übrigens für Latein als erste Fremdsprache. Könnte das nicht auch das Fach Deutsch leisten? Gewiß, es könnte das, und manche Deutschlehrer bemühen sich auch darum. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß der Deutschunterricht diese grammatische Schulung vielerorts nicht leisten kann oder will. Über die Gründe kann man streiten, über das Faktum nicht. Und da die Deutsch-Didaktik sich von diesem Anliegen tendenziell eher weiter entfernt, bietet der Lateinunterricht hier seine guten - und eben bewährten! - Dienste an.
Mit einer Polemik gegenüber der Praxis des Deutsch- und erst recht des neusprachlichen Unterrichts hat das nichts zu tun. Im Gegenteil. Es ist durchaus sinnvoll, auf unterschiedliche Weise an das Phänomen Sprache heranzugehen - hier imitativ-spontan, dort analytisch-reflektiert - eine Arbeitsteilung, die die Didaktiker als Typus-Varianz bezeichnen. Als «Re-flexionssprache» will das Lateinische mit dem Englischen, Französischen, Italienischen oder Spanischen nicht in Konkurrenz treten. Es geht nicht um einen Ver-drängungswettbewerb, sondern um ein Mit-, ja sogar Füreinander. Wer Latein als Hindernis auf dem Wege zu größerer Fremdsprachen-Kompetenz deutscher Gymnasiasten beargwöhnt, als Platzhirsch gar eines überholten Bil-dungsverständnisses, der seine jüngeren «euro-kompatiblen» Sprachkonkurrenten nicht zum Zuge kommen läßt, übersieht seine auf Kooperation angelegte Dienstleistungsfunktion bei der Schaffung sprachlicher und metasprachlicher Fundamente.
Aber nicht nur da, sondern auch im lexikalischen Bereich: Daß die romanischen Töchter den größten Teil ihres Vokabulars von der Mutter übernommen haben, braucht man ebensowenig nachzuweisen wie die Tatsache, daß die Kenntnis des lateinischen Basis-Wortschatzes ein Lern-Reservoir darstellt, aus dem man beim Vokabellernen in den Tochtersprachen bequem schöpfen kann. Mehr noch: Welcher ehemalige Latein-Schüler hätte beim Urlaub in Spanien oder Portugal noch nicht die Erfahrung gemacht, daß er dort manches - vor allem in geschriebener Form - versteht, ohne daß er je Spanisch oder Portugiesisch gelernt hätte? Moderne Latein-Lehrbücher bieten im übrigen Übungsmaterial - etwa kurze italienische oder spanische Texte -, durch das der Latein-Lerner auf diese Vernetzung, auf die völkerverbindenden, vom Ursprung in die Gegenwart reichenden Sprach-Brücken aufmerksam gemacht wird - praktizierte Europa-Kompetenz, wenn man so will.
Das gleiche gilt, wenn auch aus anderen historischen Gründen, für das Englische: Mehr als die Hälfte des in der Alltagssprache gebräuchlichen englischen Vokabulars geht auf das Lateinische zurück. Nimmt man sämtliche Wissenschaftssprachen hinzu, kommt man auf rund 80%. Eine germanische «Stieftochter» des Lateinischen mithin? In der Tat - auch wenn das allgemein wenig bekannt ist. England gar ein «lateinisches Land»? Keineswegs nur ein altphilologischer Wunschtraum, sondern eine Charakteristik aus berufenem Munde: Sie stammt von T. S. Eliot, der 1948 den Nobelpreis für Literatur erhielt - für literarische Leistungen in seiner Muttersprache Englisch, versteht sich.
Die deutsche Sprache schließlich: Auch sie weist einen beträchtlichen Anteil an lateinstämmigen Wörtern auf. Gleichwohl ist das beliebte Fremdwörter- «Argument» pro Latein nur bedingt stichhaltig. Wer aus der «Bild»-Zeitung die Fülle der lateinischen Fremdwörter heraussucht, beweist damit allenfalls die sprachliche Wirkungsmacht des Lateinischen, nicht aber den «Nutzen», es gelernt zu haben. Denn offensichtlich handelt es sich bei dieser Liste um Fremdwörter, die man auch ohne Lateinkenntnisse versteht. Anders sieht es bei anspruchsvolleren Fremdwörtern aus: Utilitarismus, Validität, Karenztage - das sind Begriffe, die sich einem über das Lateinische viel leichter erschließen; und zudem erhält, wer das lateinische Ursprungswort kennt, oft einen viel fundierteren Einblick in die «eigentliche» Bedeutung eines Fremdwortes: interessant ist etwas, bei dem ich (geistig) «dazwischen» oder «dabei bin»(inter-esse); ein Benefiz-Konzert will «Gutes tun» (bene; facere); kursiv ist eine Schrift, weil die Buchstaben zu «laufen» (currere) scheinen. Wie sehr das Lateinische die Wissenschaftssprachen in geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen sowie in der Medizin dominiert, bedarf keines Nachweises: Wohl dem, der hier auf solidem sprachlichem Fundament steht und sich nicht jeden einzelnen Begriff in mühsamem Terminologie-Pauken erarbeiten muß!
Zudem erweist sich das Lateinische als wertvolles Sprachtraining für die Muttersprache. Nirgendwo außer in den Alten Sprachen wird die Übersetzung ins Deutsche geübt. Im Lateinunterricht aber steht sie im Zentrum. Übersetzen, richtig verstanden (und nicht als scheußliche Latinisierung der deutschen Sprache betrieben), heißt: einen in einer fremden Sprache verfaßten Text sinngemäß richtig und (ziel-)sprachlich angemessen wiederzugeben. Es ist ein Akt gelenkter Kreativität, bei dem es auf begriffliche und stilistische Nuancierung ankommt. gallus cantans ist mitnichten der «singende Hahn», sondern der «krähende» - das Deutsche weist gegenüber der «Bauernsprache» Latein eine stärkere lexikalische Dif-ferenzierung auf, und auch deswegen ist Übersetzen alles andere als eine plumpe, schematische Aneinanderreihung von Vokabel-»Gleichungen». Angesichts der Verlotterung und Verarmung, der die deutsche Sprache in den bei Kindern und Jugendlichen besonders beliebten TV-Produktionen unter-worfen ist, und dem gleichzeitigen Rückgang des Lese-Interesses werden Lateinstunden durch das Übersetzen zu einem Trainingszentrum für Sprachkultur. Weil es dabei auf korrektes und nuanciertes Deutsch ankommt, kann man im Unterschied zu freien Produktionen wie Aufsätzen u. dgl. wegen der Bindung an die Vorlage sprachlich nicht «ausbüchsen», wenn's schwierig wird.
Ist es nicht erstaunlich, wieviel aktuelles, lebendiges Bildungs-Potential das Lateinische bereit hält, wieviel konkretes, auf alltägliche Nutzanwendung bezogenes Wissen, wenn man sich von dem Negativ-Etikett «tot» löst und «alt» nicht unbesehen mit «obsolet» gleichsetzt?
Das gleiche trifft auf die Inhalte zu, die lateinische Literatur. Ist das odi et amo . . . («ich hasse und liebe . . .») eines Catull, seine poetische Schilderung einer elementar erschütternden, leidenschaftlich-ausweglosen Liebe weniger anrührend und «aktuell», weil es anderthalb Jahrtausende älter ist als Shakespeares «Romeo und Julia»? Sind Ciceros staats-theoretische Reflexionen (de republica) oder seine phi-losophischen Überlegungen etwa zur Pflichtenlehre (de officiis) überholt, weil Rousseau und Marx, Kant und Popper sich bedeutend später mit diesen Themen beschäftigt haben? Kann man die mild-ironischen Satiren eines Horaz, die bissigen, pointensicheren Epigramme eines Martial durch Kurt Tucholskys oder Robert Gernhardts Satiren «ersetzen»? Natürlich nicht. Die Qualität von Literatur und die «Zeitgemäßheit» ihrer gedanklichen Entwürfe nach ihrem Alter zu bemessen - bornierter ginge es nimmer. Freilich: Offen bekennt sich kaum jemand zu solch schlichter geistiger Kost. Man formuliert eleganter, äußert verhaltene Skepsis, ob uns die «alten Texte» denn noch etwas zu sagen hätten . . .
Sie haben! Bis ins 20. Jh. haben sie ihre zeitlose Frische immer wieder unter Beweis gestellt: Die lateinische Literatur hat - auch als erste Rezeptionsstufe und Vermittlerin der griechischen - die gesamte europäische Geistesgeschichte in einer kaum zu überschätzenden Weise beeinflußt und befruchtet - in Literatur, Kunst und z. T. auch Musik. Das - und nicht «schikanöse» Leistungsanforderung - ist der Grund dafür, warum auch Germanistik-, Anglistik- und Romanistik-Seminare der Universitäten ihren Studierenden das Latinum abverlangen: Wissenschaftlich seriös läßt sich ein Philologie-Studium für Autoren bis zum 18. Jh. ohne Lateinkenntnisse kaum betreiben - natürlich auch kein Geschichts-, kein Philosophie-, kein Archäologie- und kein Theologie-Studium! Dabei reicht die Wirkungsmacht der lateinischen Literatur bis zu Rezeptionswerken der jüngsten Zeit: Man denke nur an Christoph Ransmayrs 1988 erschienenen literarischen Bestseller «Die letzte Welt», einen Roman «mit einem Ovidischen Repertoire».
So obsolet können «alte Texte» nicht sein, wenn sie ausweislich ihrer Erfolgsstory in Sachen Rezeption nach wie vor das Fundament der geistigen Tradition Europas bilden. Europa ist dabei so wenig auf Euro-Land zu verkürzen, wie Bildung - als gesellschaftliches Ziel wie als Anliegen des Individuums - mit Wirtschaft deckungsgleich ist.
Natürlich nimmt die lateinische Literatur auf die antike Welt Bezug, natürlich stößt man in den Texten nicht nur auf überzeitliche Grundfragen menschlicher Existenz, sondern auch auf Anderes, Fremdes, hier und da aus heutiger Sicht «Exotisches». Auch und gerade in der Begegnung mit Anderem liege ein erheblicher Bildungswert, versichern uns Pädagogik-Professoren wie Bildungspolitiker landauf, landab. Zauberwort «multikulturelles Lernen» - Toleranz lernen gegenüber Fremdem, die Bedingtheit des eigenen Standpunktes erkennen, sich öffnen für Ungewohntes, nicht im mainstream des Alltäglich-Vertrauten Liegendes. Ein sehr modernes Bildungskonzept - aber auch ein altbewährtes. Denn wo steht geschrieben, daß sich multikulturelles Lernen nur in der historischen Horizontalen, also im Vergleich mit gleichzeitigen Zivilisationen, vollziehen muß, und nicht auch in der Auseinandersetzung mit Ansichten, Werten und Lebens-entwürfen früherer Kulturen? Wenn multikulturelles Lernen Konjunktur hat, dann bitte auch in der historischen Vertikalen! Das hat zudem den Vorteil, in einen intensiven Dialog mit einer nur partiell fernen antiken Welt einzutreten. Sie ist nämlich zugleich als europäische Tradition in unserer heutigen Zivilisation noch präsent, so daß wir in dieser Kommunikation nicht nur mit anderem konfrontiert werden, sondern auch über uns selbst einiges erfahren. Als «nächstes Fremdes» hat Uvo Hölscher die Antike bezeichnet, und eben diese Spannung zwischen fremd und vertraut macht den Reiz der Beschäftigung mit ihr und einen erheblichen Teil ihres Bildungswertes aus.
Das gilt für die Alte Geschichte genauso wie für die Archäologie. Sie gehören ebenso wie die literarische Überlieferung zum - man kann es nicht oft genug sagen: gesamt-europäischen - Kulturerbe. Und das ist ein Stück Identität, das sind gewissermaßen mentale Wurzeln, die angesichts eines eigendynamisch, weitgehend sinnfrei über uns hereingebrochenen Globalisierungssturmes Halt versprechen in dem notwendigen Sinnfindungs- und Selbstvergewis-serungsprozeß des «Alten Kontinents» Europa. Im Schulunterricht ist übrigens das Fach Latein weitgehend der Sachwalter der gesamten Antike. Im Geschichtsunterricht fristet sie nämlich in der Regel ein Mauerblümchen-Dasein, im Kunstunterricht gehören vielerorts nicht einmal die Säulenordnungen griechischer Tempel zum Lern-Rüstzeug, und der Philosophieunterricht wird, von Ausnahmen stets abgesehen, auch nicht gerade von Texten der Klassischen Antike dominiert. Wer also die Begegnung Heranwachsender mit der Antike nicht auf flüchtige touristische Stopovers am Colosseum und filmische «Historienschinken» à la «Ben Hur» oder «Kleopatra» beschränkt, sondern fundiertes, zumindest fundamentales Wissen über die gemeinsame griechisch-römische Basiszivilisation Europas vermittelt sehen möchte, muß in der gegenwärtigen Bildungslandschaft auf das Fach Latein setzen.
Gewiß, die zuletzt genannten Ziele lassen sich auch mit Hilfe von Übersetzungen erreichen. Dabei geht allerdings ein Großteil der literarisch-ästhetischen Substanz der Originaltexte verloren - was um so bedauerlicher ist, als es sich um Literatur von höchstem formalem Rang handelt. Die enge Inbe-ziehungsetzung von Inhalt und Form ist ein Spezifikum antiker Texte: Stil- und Klangfiguren sind alles andere als bloßer rhetorischer Schmuck-Ballast; vielmehr akzentuieren, ver-dichten, intensivieren sie die inhaltliche Aussage. Weil die antiken Literaten die rhetorische Durchformung ihrer Texte nicht intuitiv, sondern künstlerisch-handwerklich auf eine beabsichtigte und gesteuerte Wirkung hin geleistet haben, läßt sich dieser «Steuerungsprozeß» vom Interpreten gewis-sermaßen zurückverfolgen und mit Hilfe klarer Kriterien plausibel machen. Und das ermöglicht eine methodisch saubere Basis-Schulung in Sachen Interpretation. Guter Latein-unterricht, der Stilmittel nicht nur benennt, sondern auch auf ihre Wirkung und Funktion hin untersucht, ist daher mit den Worten Manfred Fuhrmanns ein «vortreffliches Introduktorium für die ästhetischen Qualitäten von Literatur überhaupt».
Guter Lateinunterricht ist freilich für die Lernenden oftmals auch ein mühseliges Geschäft. Wenngleich die Latein-Lehrbücher schülernäher und motivierender geworden sind, die Methodik sich variabler entwickelt hat und der Spaß-Faktor gottlob nicht mehr als Störenfried stante pede des Lateinunterrichts verwiesen wird, bleibt Latein ein «sperriges» Fach: Es verlangt Lernarbeit, es fordert - und fördert! - Konzentrationsfähigkeit, Gründlichkeit, Genauigkeit, analy-tisches und kreatives Denken sowie Frustrationstoleranz. In diesem Sinne mag es inmitten der famosen Medienwelt der Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit, des Konsumdrucks und der Überflutung mit visuellen und auditiven Stimuli auf den ersten Blick «unmodern» anmuten. Als Gegengewicht zur besin-nungslosen Welt der vorbeirauschenden Bilder freilich und einer unkritischen Berieselungs-Mentalität ist es dagegen hochaktuell und notwendiger denn je. Nicht zuletzt im Hinblick auf die schon erwähnte Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland: Als rohstoffarmes Land sind wir auf «Humankapital» in Form von Spitzenleistungen im Bereich von Wissenschaft und Technik angewiesen. Latein als «Trimmpfad des Geistes» gehört zu den gymnasialen Basisfächern, die die dazu notwendigen Qualifikationen und Arbeitshaltungen vermitteln. Es leistet keinen unmittelbaren Beitrag zur Produktions- und Arbeitswelt, aber es ist eine gesellschaftliche Investition in Grundlagen-Qualifikationen, deren Trans-ferierbarkeit auf andere Bereiche plausibel unterstellt werden darf. So gesehen kann man Latein durchaus als positiven Standort-Faktor unseres Landes bezeichnen.
Tradition und Modernität, Zeitgemäßheit und «Anti-mainstream-Angebot», gesellschaftliche Relevanz und per-sönliches Bildungserlebnis: Das alles bietet Latein. Wir sollten es unseren Schülern zumuten, und wir sollten es ihnen gönnen.
Karl-Wilhelm Weeber, Witten
Bildnachweis
Abb .1: aus A. Stückelberger, Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik (1994) Taf. 27; 2: aus Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Ausstellungskatalog Berlin (1988) 303 Abb. 139; 3: EdizioneVincenzo Carcavallo, Neapel; 4: Photo A. Nünnerich-Asmus.
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Prof. Dr. Karl-Wilhelm Weeber
Fahrendelle 10
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