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"Eine forschende Schule": Langjähriger Arbeitsschwerpunkt regionale Geschichte

Sie kamen auf überfüllten Schiffen über die Ostsee, zwängten sich in Viehwaggons, fuhren mit dem Pferdewagen im Treck oder gingen gar zu Fuß in den Westen. Ihr Zuhause in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien mussten sie 1945/46 verlassen, eine Folge jenes grausamen Krieges, der seine Ursprünge in Deutschland hatte. Fast 12 Millionen Deutsche flohen vor der Roten Armee oder wurden vertrieben aus den von der Wehrmacht verlassenen Gebieten, die ihre Heimat gewesen war. Packende Erlebnisberichte über die unfreiwillige Reise in den Westen gibt es seit langem in ebenso großer Zahl wie allgemeine wissenschaftliche Untersuchungen jener Jahre der Flucht und Vertreibung. Doch lokale Veröffentlichungen darüber, wie Vertriebene und Flüchtlinge auf dem platten Land in Niedersachsen aufgenommen wurden, wie sie sich dort fühlten, sich eine neue Existenz aufbauten und schließlich eine zweite Heimat schufen, sind eher selten oder fehlen in bestimmten Regionen ganz. Das galt auch für den Landkreis Diepholz, speziell die Gegend um Sulingen. Lehrer und Schüler unserer Schule schlossen die Lücke in einer in der weiten Region einmaligen Weise: In rund einjähriger Arbeit haben Mitglieder des Leistungskurses Geschichte unter der Leitung von Oberstudienrat Dr. Fritz Hasselhorn mit Flüchtlingen, Vertriebenen und Einheimischen im Landkreis Diepholz gesprochen und Ergebnisse in Aufsätzen zusammengefasst.

Archivarbeit und „oral history"

Schwerpunktmäßig haben sie Menschen in den Dörfern des Sulinger Landes nach den harten Jahren unmittelbar nach Kriegsende befragt. Sie haben dabei eine Methode der alltagsgeschichtlichen Forschung erprobt, die „oral history". Ihr verdanken die Schüler eine Fülle von Erkenntnissen, die aus den spärlichen schriftlichen Quellen allein nicht abzuleiten gewesen wären. Aber auch in Archiven beispielsweise der Kirchengemeinden Sulingen und Varrel haben die Schülerinnen und Schüler geforscht. Zwar hatten Oberstufenkurse am Gymnasium Sulingen schon früher ähnliche Arbeiten zu anderen Themen geleistet und beachtliche Ergebnisse vorgelegt. Doch mit der Spurensuche nach den Flüchtlingen und Vertriebenen gelang es erstmals, die Aufsätze in sorgfältig überarbeiteter Form für ein größeres Publikum auch außerhalb der Schule professionell aufzubereiten und als Broschüre in hoher Auflage zu drucken.

„Uns wollte hier ja keiner"

Unter dem provokanten Titel „Uns wollte hier ja keiner", einem authentischen Zitat aus einem der vielen Gespräche, lag schon nach kurzer Zeit die 2. Auflage der regionalen Studien vor, die die Stadt Sulingen sogar mit ihrem Kulturpreis auszeichnete und die in den Schulen der Region einen festen Platz im Geschichtsunterricht über die Nachkriegszeit erobert hat. Anschaulich wird berichtet, wie die Ostdeutschen in Niedersachsen aufgenommen wurden, wie sie vorläufig unterkamen und wie die Menschen aus dem Sulinger Land mit ihren ungebetenen Gästen umgingen. Die Einheimischen mussten amtlich verordnete Einquartierungen hinnehmen und enger zusammenrücken als dem Miteinander bekommt. Überschriften einzelner Aufsätze wie „Das war natürlich immer doll beengt" oder „Brotrinde aus dem Pferdetrog" zeigen, dass die Betroffenen authentisch und ungeschminkt zu Wort kommen. Ebenso plastisch wird beschrieben, wie es Flüchtlingskindern in der Schule erging, wie die Lehrer mit ihnen zurecht kamen und wie Mitschüler aus dem Sulinger Land auf sie reagierten. Exemplarisch wird gezeigt, wie Flüchtlinge und Vertriebene die Ärmel aufkrempelten, um so bald wie möglich aus den provisorischen Unterkünften herauszukommen und zu eigenen Häusern zu kommen, meist allerdings in separat gelegenen neuen Siedlungen, in denen sie unter sich blieben. Von Integration konnte nicht die Rede sein. Das wurde dann besonders deutlich, wenn die Liebe zwischen zwei Menschen aus Ost und West soweit ging, dass an eine Ehe gedacht wurde. „So einen ollen Flüchtling heiraten?" war dann im Sulinger Land eine durchaus gängige Frage, die sich die Verliebten nicht nur einmal anhören mussten. Wie sich Ost- und Westdeutsche statistisch mischten, haben die Sulinger Gymnasiasten in Kirchenakten exakt erforscht. Ihre Ergebnisse präsentieren sie in Text und Grafik. Abschließend reflektieren die jungen Regionalhistoriker ihre Forschungsmethoden in ihren Stärken und Schwächen.

„Nach den Tommys kam die DM"

rfolg beflügelt: Zwei Jahre nach der Vorstellung der ersten regionalgeschichtlichen Broschürestellte Herausgeber Hasselhorn bereits die nächste unter dem flotten Titel „Nach den Tommys kam die DM" vor. In ihr haben die Mitglieder eines Projektkurses Geschichte anhand intensiver Recherchen hauptsächlich im Stadtarchiv die Nachkriegsgeschichte Sulingens untersucht. Das Spektrum der vielfältig illustrierten Aufsätze reicht vom Wirken der britischen Besatzungsmacht, der Entnazifizierung und den Anfängen der Industrie in Sulingen über den Neubeginn in der Kommunalpolitik und die Ernährungslage hin zur Schule und dem kulturellen Leben in der kleinen Stadt an der Sule.

„Nu foat moal mit an!"

Die fünfziger Jahre stehen im Mittelpunkt einer dritten Broschüre, die Hasselhorn mit Oberstufenschülern unserer Schule erarbeitet hat: „Nu foat moal mit an!" ist der Titel, der das auf den Dörfern des Sulinger Landes noch lebendige Platt aufnimmt und zugleich treffend dieAufbruchstimmung jener Jahre auch auf dem Lande spiegelt. Das Spektrum der kleinen Studien reicht vom Leben und Arbeiten in den weiten Moorgebieten der Region um Sulingen und die wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes Barenburg in der „Wirtschaftswunderzeit" bis zur Arbeit in einer Schuhfabrik und die Rolle der Frau im Umfeld von Haus und Kindern. Die Beiträge sind alltagsgeschichtlich geprägt, besonders, wenn über eine Hochzeit in den Fünfzigern oder das Kinoprogramm und seine Resonanz in Sulingen berichtet wird. Diese Broschüre wurde vom Heimatverein Sulingen herausgegeben.

„Ich hatte einen Kameraden"

uf dankbares Interesse gerade bei den Heimatvereinen der Region stieß eine vierte Publikation aus dem Gymnasium Sulingen mit dem Titel „Ich hatte einen Kameraden". Sie hat einen anderen Charakter als die bisher vorgestellten. Die wiederum von Dr. Hasselhorn betreute Aufsatzsammlung von Schülerinnen und Schüler, die aus dem Geschichtsunterricht einer 10. Klasse erwachsen ist, stellt 17 Kriegerdenkmäler der Region um Sulingen und ihre Geschichte vor. Jedes Denkmal haben die Schüler mit einer von ihnen im Kunstunterricht angefertigten Zeichnung illustriert.

Eine „forschende Schule"

Als der Leiter des Kreismuseums in Syke, Dr. Ralf Vogeding, eine Ausstellung seines Hauses zur regionalen Nachkriegsgeschichte im Gymnasium Sulingen eröffnete, nannte er den Ausstellungsort in Kenntnis der Publikationen zur Regionalgeschichte eine „forschende Schule" - ein Kompliment das Schulleitung, Geschichtslehrer und beteiligte Schüler natürlich gern hörten, das aber auch eine breite Basis hat. Denn neben den schon genannten lokalen und regionalen Studien, die als Broschüren gedruckt vorliegen, gibt es noch etwa zwei Dutzend unveröffentlichte Aufsätze vor allem zum dörflichen und kleinstädtischen Alltagsleben im Sulinger Land in den fünfziger Jahren. Sie kamen bei einem aus dem Gymnasium Sulingen angeregten Wettbewerb der Kreissparkasse Grafschaft Diepholz zustande.

Auch die Schulgeschichte untersucht

Doch nicht nur die Geschichte der Region hat Sulinger Gymnasiasten und ihre Lehrerbeschäftigt. Sie nahmen gemeinsam auch die Entwicklung ihrer eigenen Schule unter die Lupe. Als Ergebnis gründlicher Recherchen während einer Projektwoche kamen Zeitungsberichte und andere Materialien über die Gründungsgeschichte der Schule zusammen, die in der historischen Sammlung des Gymnasiums bisher gefehlt hatten. Auf der Basis dieser Quellen konnte der Verfasser passend zum 40jährigen Bestehen der Schule den ersten Teil der Schulchronik unter dem Titel „Anfangszeit. Wie Sulingen zu seinem Gymnasium kam" vorlegen. Sie umfasst die Jahre 1953 bis 1959, jenem Jahr, in dem das Gymnasium, das seinen Unterricht vier Jahre lang als Gast in der örtlichen Volksschule abhalten musste, in sein erstes eigenes Gebäude zog. Schülern eines weiteren Geschichtsleistungskurses, die Anfang 1999 im Sulinger Stadtarchiv ein einwöchiges Praktikum absolvierten, ist es zu danken, dass unter anderem Artikel der lokalen Presse von 1960 bis 1982 ermittelt und kopiert wurden. Sie bereichern seither das Schularchiv und sind im REGIO-Raum im Sek II-Haus benutzbar.

„Als die Synagogen brannten"

Die erste Veröffentlichung, an dem das Gymnasium Sulingen beteiligt war, erschien bereits im Oktober 1988 zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht unter dem Titel „Als die Synagogen brannten". Studiendirektor Harald Focke war Mitautor eines Buches des Arbeitskreises Regionalgeschichte, das nicht nur allgemein über die Vorgeschichte und Folgen des Judenpogroms vom 9./10. November 1938 in Deutschland während der NS-Zeit informierte, sondern in kleinen lokalen Untersuchungen auch Darstellungen und Dokumente enthielt, die die Situation in zahlreichen Orten des Kreise Diepholz enthielt. Das Vorwort hatte der damalige Niedersächsische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten Heinrich Jürgens aus Öftinghausen verfasst. Die Nachfrage nach dem Buch war so groß, dass schon im August 1989 eine zweite Auflage möglich wurde.

„Auch hier bei uns war Krieg"

Der Erfolg ermutigte Focke, in einem erweiterten Team gemeinsam mit dem Sulinger Realschullehrer Hilmar Kurth ein neues Buch mit dem Titel „Auch hier bei uns war Krieg" herauszugeben. Es enthielt zahlreiche Beiträge über die Ereignisse in den Jahren 1938 bis 1945 im Raum zwischen Bremen und Diepholz. Anlass war der 50. Jahrestag des Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1989. Bereits kurz nach Erscheinen im August 1989 konnten die Herausgeber die zweite Auflage drucken und binden lassen. Beide Bücher sind seit vielen Jahren vergriffen und nur noch in Bibliotheken zugänglich.

Harald Focke