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Start als Oberschule

Am Sonnabend, dem 16. April 1955, begann der Unterricht des „Progymnasiums in Entwicklung“, so der offizielle Geburtsname. Der Sulinger Volksmund sprach schlicht von der „Oberschule“, und so blieb das auch noch jahrelang.
Ein eigenes Gebäude hatte sie vorerst nicht. Die Geburtsstunde des heutigen Gymnasiums schlug im jetzigen Büchereitrakt der jetzigen Grundschule. Der Stadtrat hatte die 5. und die 6. Klasse erst einmal in der neuen Sulinger Volksschule an der Schmelingstraße/Ecke Vogelsang untergebracht, um ja keine Zeit zu verlieren. Mehr als vier Jahre sollte das Provisorium dauern. Dann waren der heutige Altbau des Gymnasiums mit den Fachräumen und dem Lehrerzimmer, die Pausenhalle und der erste Trakt mit vier Klassenräumen fertig.

Die Bemühungen, in Sulingen eine „Oberschule“ einzurichten, gehen zurück in das Jahr 1953. Bürgermeister Rudolf Eickhoff sprach das Thema Ende November im Rat erstmals öffentlich an. Vier Wochen zuvor hatte er den Grundstein für die neue Volksschule gelegt. Zuvor hatten er und Stadtdirektor Alex Meister, die Stimmung im Sulinger Land erkundet und viele Zahlen notiert. 

Rund 200 Mädchen und Jungen aus Sulingen und den umliegenden Gemeinden, so hatte Meister ermittelt, besuchten höhere Schulen in Diepholz, Nienburg und sogar in Bremen. Und weitere 100 Sulinger Mittelschüler würden gerne das Abitur das Abitur machen, wenn sie dafür morgens und mittags nicht mehr so weit und so lange mit Bahn und Bus zum nächsten Gymnasium fahren müssten, meinte Meister. 

Das „Bedürfnis“ nach einer eigenen Sulinger „Oberschule“ sei damit gesichert, entschied Bürgermeister Eickhoff. Doch nicht nur das: Auch das Niedersächsische Kultusministerium sei dieser Ansicht und unterstütze die Sulinger Pläne, gab der pfiffige Stadtdirektor den überraschten Ratsherren bekannt. Jetzt brauche man nur noch ein paar passende Räume und natürlich Lehrer. Dann könne es losgehen mit der höheren Bildung im Sulinger Land. Der Rat ließ sich anstecken von Eickhoffs und Meisters Optimismus: Einstimmig sprach er sich spontan für eine Oberschule aus. Die hatte Sulingen gerade noch gefehlt.

Ende Januar 1954 druckte die „Sulinger Kreiszeitung“ ausführlich Meisters schöne Zahlen: Sulingens Bevölkerung sei von 3200 vor dem Krieg auf 6900 geklettert; die Zahl der Volksschüler habe sich in dieser Zeit verdoppelt. Die Sulinger Industriebetriebe – vor allem die Lloyd-Schuhfabrik und die Bergmann Kabelwerke - mit über 1000 Beschäftigten drängten auf eine Oberschule am Ort, um den Kindern ihrer Führungskräfte ein attraktives Bildungsangebot machen zu können. Außerdem könnten sie, so Meister, dann viel leichter als bisher qualifizierte Kräfte mit Abitur für sich gewinnen. 

Kaum ein Thema der Kommunalpolitik war so unumstritten wie das geplante Gymnasium – doch nur in Sulingen selbst. Anfang März 1954 diskutierte der Kreistag den Wunsch der Sulinger, neben der seit Jahrzehnten etablierten und geschätzten Graf-Friedrich-Schule in Diepholz eine zweite Oberschule im Kreis Grafschaft Diepholz zu errichten. Sulingens Bürgermeister Eickhoff hielt nach Meinung der „Sulinger Kreiszeitung“ in der entscheidenden Kreistagssitzung eine „große Rede“. Für Ostern 1954, dem damaligen Schuljahrsbeginn, lägen 62 Anmeldungen vor - „zuviel, als dass wir sie in einem Klassenzug verarzten könnten“, formulierte Bäckermeister Eickhoff. „Denken Sie an unsere Fahrschüler, an unsere Kinder in den abseits gelegenen Dörfern!“, appellierte er an die Kreistagsmitglieder.

Doch in der Debatte blies den flotten Sulingern der Wind ganz kräftig ins Gesicht. Auf die 37 Gemeinden des Sulinger Landes konnten sie sich verlassen, das hatten Eickhoff und Meister bestens organisiert. Aber alle Redner aus dem Altkreis Diepholz machten kein Hehl aus ihrer Meinung, man müsse erst einmal die Kreisstadt und ihre Schulen ausbauen, ehe man an eine Neugründung in Sulingen denken könne. Gerade habe man in Diepholz ein neues Kreishaus gebaut, das Krankenhaus benötige dringend Geld, ebenso die Berufsschule und die Landwirtschaftsschule. Da sei für Sulingen nichts mehr drin, meinten die Diepholzer ganz ohne Bedauern.
Wie viele andere spürte Ex-Landrat von Wuthenau, wie die alten Gegensätze zwischen Sulingen und der stets ungeliebten Nachbarstadt Diepholz aufbrachen. Dass die Sulinger den Kreissitz 1932 verloren hatten, hatten sie gut 20 Jahre danach noch nicht vergessen. Wuthenau wollte den Kompromiss: Er brachte einen Antrag in den Kreistag ein, der den „Bedarf“ einer Oberschule in Sulingen anerkannte, die Entscheidung über eine Beteiligung des Kreises am Bau und der Unterhaltung aber vertagte und an die vorherige Zustimmung des Kultusministeriums knüpfte. Es schien, als hätten die Diepholzer sich in dem entscheidenden Punkt durchgesetzt. 

Tatsächlich aber war es ein Sieg für die Sulinger. Denn keiner ahnte, dass die Bedingung des Kreistages nicht in den Sternen stand, sondern schon erfüllt war. Der ausgebuffte Polit-Profi Eickhoff hatte bereits vorab in Hannover von Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf grünes Licht für seine Oberschul-Pläne bekommen. Davon hatte er in Diepholz lieber nichts gesagt. Während die Diepholzer noch glaubten, das Sulinger Oberschulprojekt geschickt verzögert zu haben, konnte die Sulinger nichts und niemand mehr aufhalten. Eickhoff und Meister hatten Grund zum Feiern. Doch der Schein trog.

Am nächsten Sonnabend sah die Sache nämlich schon ganz anders aus. An diesem 6. März 1954 verabschiedete der Leiter der Diepholzer Graf-Friedrich-Schule, Oberstudiendirektor Heinrich Müller-Hartmut, „seine“ Abiturienten. Seine Festrede würzte er mit heftigen Attacken auf die Sulinger Oberschulpläne im Allgemeinen und ihren Protagonisten Rudolf Eickhoff im Besonderen. 

Unmissverständlich warf er dem Sulinger Bürgermeister, ohne ihn namentlich zu nennen, „Taschenspielertricks und Roßtäuschermanieren“ bei seinem Versuch vor, die Notwendigkeit einer zweiten Oberschule im Kreis mit Zahlen belegen zu wollen. Es sei ein „Trugschluss“, einen Bedarf für 1955 mit Zahlen für 1954 nachweisen zu wollen, sagte Müller-Hartmut in Anspielung auf Eickhoffs Kreistagsauftritt. Ein Gymnasium in Sulingen habe keine Chance. Es werde eine „Zwergschule“ bleiben, „die finanziell weder leben noch sterben“ könne. Als Eickhoffs Motive vermutete Müller-Hartmut „Geltungsbedürfnis“ und einen „Neidkomplex“. 

Sulingens Bürgermeister musste diese scharfen Töne ein paar Tage später in der „Sulinger Kreiszeitung“ lesen. Der Eklat war da. Eickhoff berief umgehend eine Ratssitzung im Saal des „Ratskellers“ ein. Am 15. März 1954 rechnete er vor großem Publikum in einer einstündigen Rede mit dem GFS-Leiter ab. Eickhoff wies alle Vorwürfe zurück und bestritt auch das ihm unterstellte Störfeuer gegen die beabsichtigte Erweiterung der Graf-Friedrich-Schule zugunsten eines Neubaus in Sulingen.Rat und Eltern machten nach der Sitzung in einer Versammlung und einer Stellungnahme in der Lokalzeitung deutlich, dass sie geschlossen hinter Eickhoff und seinen Plänen für ein Gymnasium in Sulingen standen. 

Anfang April war der Streit offiziell erledigt. In einem Vermittlungsgespräch räumte Müller-Hartmut ein, er sei von falschen Zahlen ausgegangen. Die Zeitung informierte die Öffentlichkeit über den Rückzieher des Oberstudiendirektors. Eickhoff hatte wieder Oberwasser.

Jetzt folgten konkrete Schritte: Am 17. August 1954 vereinbarte die Stadt Sulingen mit dem Landkreis, dass er die bisher stets als „städtisch“ bezeichnete Oberschule ebenso wie die GFS in seine Trägerschaft übernehmen werde. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Sulingen sollte seine Oberschulklasse zwar bekommen, aber nicht wie gewünscht als selbständiges Gymnasium, sondern nur als „Abteilung der Kreisoberschule.“ Leiter der Diepholzer Außenstelle wäre somit ausgerechnet GFS-Chef Müller-Hartmut...

Die Stadt Sulingen musste sich verpflichten, alle aufwachsenden Klassen bis zur Fertigstellung eines Neubaus auf ihre Kosten unterzubringen und künftig jährlich 5000 DM für den laufenden Unterhalt der Oberschule beizusteuern. Außerdem musste die Stadt dem Kreis schnellstens kostenlos einen Bauplatz für das geplante Gymnasium anbieten. 

Zunächst war vorgesehen, die Sulinger Oberschüler provisorisch in der alten Volksschule von 1868 an der Langen Straße neben der Kornbrennerei Lüning lernen zu lassen. Dieses Gebäude direkt an der Sule hatten Schüler und Lehrer im Oktober 1954 allerdings nicht ohne Grund verlassen: Es konnte jederzeit einstürzen, die Gründungspfähle waren verfault. Nach einigem Hin und Her fiel die Entscheidung zugunsten der neuen Volksschule, wo der ursprünglich als Bücherei vorgesehene Bereich für zunächst zwei Klassen hergerichtet wurde.
Am 27. Dezember 1954 teilte die staatliche Verwaltung der höheren Schulen in Hannover mit, in Sulingen könnten ab Ostern 1955 jeweils eine 5. und eine 6. Oberschulklasse mit dem Lernen beginnen. Zuvor müsse sich aber der Kreis verpflichten, in den nächsten fünf Jahren einen Neubau zu errichten. Schon am 3. Januar 1955 gab der Kreis diese Zusage. 

Unmittelbar danach kaufte die Stadt Sulingen einen Bauplatz zwischen Schmelingstraße und Langer Straße neben dem Krankenhaus. Anfang April standen endlich die beiden ersten Lehrkräfte, Maria Altevogt und Otto Lembcke, bereit. Beide mussten weit mehr Fächer unterrichten als die, für die sie ausgebildet waren. Auch Lehrer der Volks- und Mittelschule halfen aus. Die neue 5. Klasse besuchten ab 16. April 1955 30 Schüler, in der 6. Klasse saßen 29.
Die Sulinger waren am Ziel und das in Rekordtempo: Nur anderthalb Jahre waren verstrichen, seit Bürgermeister Eickhoff und Stadtdirektor Meister ihre Initiative öffentlich gemacht hatten. Nun ja, die Oberschule war nur eine Außenstelle der Diepholzer GFS, das schmerzte. Aber das Problem würde man auch bald lösen. Und ein eigenes Gebäude hatte der Kreis ja fest versprochen. Kein Zweifel: Der Start war gut geglückt.

Harald Focke

Das neue Schulgebäude kurz vor der Fertigstellung

Das neue Schulgebäude kurz vor der Fertigstellung